Audioführer durch die Ausstellung

Aufstieg der Textilindustrie in Heidenheim

Der Webstuhl aus dem Oberamt Heidenheim, auf dem hiesige Weberfamilien seit dem 18. Jahrhundert Stoffe aus Leinen und Baumwolle woben, erzählt folgende Geschichte:
Der Webstuhl im Oberamt Heidenheim.
Der Webstuhl im Oberamt Heidenheim.

In dieser Gegend war die sogenannte „Realteilung“ üblich, d.h. jedes Kind, Buben wie Mädchen, erbten den gleichen Anteil. Dies verkleinerte die landwirtschaftlichen Güter mit jeder Generation. Die landbauende Bevölkerung konnte sich immer weniger vom Ertrag ihrer immer kleiner werdenden Äcker und Wiesen ernähren und musste zusehen, mit einem gewerblichen Nebenverdienst die Lücke zu schließen. Im Schwarzwald bauten die Leute Uhren, in der Baar stellten sie Messer, Waagen und Musikinstrumente her, und im Gebiet der östlichen Alb woben die Menschen. Der Webstuhl stand in der „Dunk“, einem großen Raum im Souterrain des Wohnhauses.

Die Tradition der über den Eigenbedarf hinausreichenden Textilproduktion im Amt Heidenheim geht bis in die Zeit Herzog Friedrichs I. von Württemberg im frühen 16. Jahrhundert zurück. Doch richtigen Schwung nahm das Textilgewerbe erst, als sich hier 1736 eine Leinwandhandlungsgesellschaft der Herren Rheinwaldt, Finck und Vischer etablierte. Die kaufte den Webern große Mengen an Leinentüchern ab und exportierte die bis nach Frankreich, Italien und Spanien. Die 1758 in Heidenheim gegründete Baumwolldruckerei brauchte als Rohmaterial Baumwollstoffe. So begannen die Weber im Amt Heidenheim, von der Produktion von Leinengeweben auf die von Baumwolltüchern umzustellen. (In der Sprache der Wirtschaftsgeschichte nennt man dies „Konversion“).

Ein typischer Träger der Frühindustrialisierung in Europa ab dem 18. Jahrhundert war der sogenannte „geteilte Betrieb“: viele Heimarbeiter stellten große Mengen an Halbfertigpro­dukten her, die dann zentral in einer Fabrik weiter verarbeitet wurde und die ein Unternehmer (oder eine „Compagnie“) in einem großen Absatzgebiet vertrieb. Der hier gezeigte Webstuhl repräsentiert das wichtigste Produktionsmittel im ersten Teil des „geteilten Betriebs“.


Der Becher der Heidenheimer Weberzunft aus dem Jahr 1778 erzählt folgende Geschichte:
Der Becher der Heidenheimer Weberzunft

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts arbeiteten im Oberamt Heidenheim mindestens 600 Weber. Rechnet man je Haushalt die übliche Größe von vier Personen, so lebte mehr als jeder zehnte der gut 20 000 Einwohner im Bezirk Heidenheim zu einem großen Teil vom Weben. Ein großer Teil der hier gewobenen Stoffe ging in den Export nach Frankreich, Italien und Spanien

Die Zunft diente der gemeinsamen Interessenvertretung gegenüber zwei verschiedenen Akteuren: Das waren zum einen die Handelsherren von der Leinwandhandlungscompagnie, später die Indienne-Druckereien von Johann Heinrich Schüle und Georg Christoph Gleich, ab dem Jahr 1778 die Fabrikherren von der Kattun- oder „Zitzfabrik“ Meebold, Schühle & Companie. Zum anderen war das der württembergische Staat, der für jedes gewobene Stück Akzise erhob, dazu Schaugeld und Stempelgeld für die Qualitätskontrolle und das „Gütesiegel“ verlangte.

Die Heidenheimer Weberzunft setzte sich unter anderem dafür ein, dass ihre Mitglieder jedes Stück Stoff aus Leinen oder Baumwolle für einen anständigen Preis verkaufen konnten – und wenn die Leinwandhandlungsgesellschaft nicht genug bezahlte, dann sollten die Weber ihre Produkte auch an andere meistbietend verkaufen dürfen.

Die Weberzunft übte also im 18. Jahrhundert Funktionen aus, die heute von einer Gewerkschaft wahrgenommen werden.

Das Porträt des Heidenheimer Unternehmers Johann Gottlieb Meebold, ein um 1830 gemaltes Ölbild, erzählt folgende Geschichte:
Das Porträt des Heidenheimer Unternehmers Johann Gottlieb Meebold

Johann Gottlieb Meebold (1796–1871) war einer der innovativsten Unternehmer seiner Zeit. 1828 eröffnete er, auf dem Gelände des wenige Jahre zuvor kaltgestellten Heidenheimer Hochofens, die erste mechanische Baumwollweberei im Königreich Württemberg. 1841 nahm er als erster in Württemberg eine Dampfmaschine in Betrieb. Ebenfalls als erster in Württemberg ließ er die Weberei mit Gaslicht beleuchten, um so die Arbeitszeit im Winter auf Stunden ohne Tageslicht ausdehnen zu können. Zum Betrieb der Dampfmaschine wie für das Leuchtgas – mittels einer Kokerei aus Steinkohle gewonnen – musste Meebold die Kohle per Frachtfuhrwerk aus Heilbronn herankarren lassen. Johann Gottlieb Meebold führte seine Baumwollweberei und die Kattundruckerei in solche Höhe, dass sein Sohn Robert 1856 daraus eine der ersten Aktiengesellschaften in Württemberg gründen konnte: die WCM.


Mit Johann Gottlieb Meebold und seinesgleichen trat im 19. Jahrhundert ein neuer gesell­schaftlicher Typus auf, der sich, wie zuvor nur Adlige und städtische Patrizier, in Öl porträtieren ließ: der Industriefabrikant.

Die Gewobene Visitenkarte des Lehrers an der Heidenheimer Webschule Johann Gottfried Erlenbusch aus dem Jahr 1870 erzählt zwei Geschichten:
Die Gewobene Visitenkarte des Lehrers an der Heidenheimer Webschule Johann Gottfried Erlenbusch.

Zum einen die Geschichte von der staatlichen Gewerbeförderung. Die Webschule wurde 1860 auf Initiative von Ludwig Lang, dem Vorsitzenden der Heidenheimer Unternehmervereinigung (die hieß damals „Gewerbeverein“) gegründet. Bis bis zu ihrer Schließung im Jahr 1906 führten und finanzierten sie der Staat, zunächst das Oberamt, später der Stadt und der Gewerbeverein als Gemeinschaftsprojekt.

Die Webschule startete mit 24 Schülern, die zwei Jahre lang theoretischen und praktischen Unterricht an Webstühlen erhielten, dafür jährlich 10 Gulden Lehrgeld bezahlen mussten und ihre Ausbildung als fachkundige Webmeister abschlossen. Als Schulsaal diente bis 1877 der große Obervogteisaal im Schloss Hellenstein, wo später der Heimat- und Altertumsverein seine Sammlungen ausstellte. Dann zog die Webschule in die Stadt hinunter, ins geräumte Gebäude der Jacquardweberei Wittich, wo heute die Eugen-Gaus-Realschule steht.

Von 1865 bis 1880 wirkte hier als Weblehrer Johann Gottfried Erlenbusch, der zuvor an der Webschule in Stuttgart und als Wanderlehrer für Jacquardweberei tätig gewesen war. Übrigens wurde der Heidenheimer Fabrikant Oberdorfer Erlenbuschs Schwiegersohn.


Zum anderen erzählt die Visitenkarte die Geschichte, dass Maschinen den Menschen schon immer Arbeit weggenommen oder auch abgenommen haben. Um 1860 standen im Oberamtsbezirk Heidenheim knapp sieben Prozent aller Handwebstühle im ganzen Königreich Württemberg. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die stetig verbesserten mechanischen Webstühle, also die Webmaschinen, die Weber erwerbslos machen würden. Die Visitenkarte des Weblehrers Erlenbusch zeigt somit auch die einzig zukunftsfähige Antwort auf die Ablösung menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen: sie lautet Ausbildung, Weiterbildung und Spezialisierung.

Der Schuldschein der Firma Meebold, Hartenstein & Compagnie über 650 Gulden aus dem Jahr 1768 erzählt,
Der Schuldschein der Firma Meebold, Hartenstein & Compagnie.

weshalb wir die Textilbetriebe in Heidenheim schon im 18. Jahrhundert unter „Industrie“ im modernen Sinne fassen: neben Arbeitsteilung, mechanischer Arbeit mit Maschinen, Produk­tion großer gleichförmiger Mengen und weitem Absatz bis in ferne Länder gehört notwendi­gerweise auch der Einsatz von Kapital dazu, um als „Industrie“ zu gelten. Kapital meint eine größere Menge Geldes. Die hier ver- bzw. geliehenen 650 Gulden entsprachen drei Jahresge­hältern eines städtischen Amtsträgers im (nach heutigen Begriffen) gehobenen Dienst. Man hätte dafür zwei recht anständige Häuser in der Stadt Heidenheim kaufen können.


Schon die Fabrikanten des 18. Jahrhunderts mussten gewaltige Finanzmittel einsetzen. Als zum Beispiel die Indiennedruckerei des Georg Christoph Gleich in Augsburg „fallierte“, also Pleite ging, erreichte das Volumen des Konkurses eine Höhe von 300°000 Gulden. Gemessen an Jahresgehältern städtischer Beamter oder am Wert von Häusern wäre das heute eine Größenordnung von 60 bis 75 Millionen Euro.


Der Schuldschein erzählt auch von der Witwe Gmelin aus Tübingen, einer „Wagniskapital-Geberin“ des 18. Jahrhunderts. In jener Zeit existierten noch keine Banken, geschweige denn Sparkassen, die Ersparnisse von Privatkunden entgegengenommen (und vielleicht sogar Zinseb gezahlt) hätten. Wer eine größere Geldsumme brauchte, musste sie bei Verwandten, Freunden oder Bekannten ausleihen. Umgekehrt musste sich, wer Geld übrig hatte und es lieber nicht in die Matratze einnähen wollte, einen vertrauenswürdigen Gläubiger suchen. Die Firma Meebold, Hartenstein & Compagnie erschien der Professorenwitwe aus Tübingen offenbar hinreichend kreditwürdig – womit sie einen guten Riecher bewies.

Niedergang der Textilindustrie in Heidenheim

Das prächtige Kleid aus der „Indischen Sammlung“ von Alfred Meebold erzählt folgende Geschichte:
Kleid aus der „Indischen Sammlung“ von Alfred Meebold.

Betrachtet man die „Langen Wellen“ der geschichtlichen Entwicklung der globalen Wirtschaft, so zeigt sich: Der ökonomische Aufstieg der einen Weltgegend kann den Niedergang einer anderen bewirken, und umgekehrt – und in der nächsten Epoche dreht sich dieses Rad weiter.


Gut 250 Jahre lang, vom 16. bis weit in das 18. Jahrhundert hinein, waren bedruckte Baumwollgewebe aus Indien führend auf den Weltmärkten. Zunächst ein Luxusgut, konnten sich im Laufe der Zeit auch immer mehr einfache Leute in Europa die leichte, modische Kleidung aus Baumwolle, aus „Indienne“-Stoffen, leisten.

Das ausgestellte Kleid einer indischen Tänzerin stammt zwar aus dem 19. Jahrhundert, es wird aber im 16. oder 17. Jahrhundert nicht wesentlich anders ausgesehen haben. In dieser Ausstellung steht es für die lange und große Tradition des Textilgewerbes in Indien.

Der „Stoffbahnführer“ aus der Heidenheimer Maschinenfabrik Prinzing erzählt folgende Geschichte:
Der „Stoffbahnführer“ aus der Heidenheimer Maschinenfabrik Prinzing

Wer jemals eine Webmaschine in Aktion gesehen hat, weiß: Mit diesem Tempo, mit solcher Präzision können fleißige Weberhände unmöglich mithalten – selbst wenn auch noch die Frau und die Kinder mitarbeiten.

So trieb die Industrielle Revolution in Europa ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das indische Textilgewerbe in den Ruin. Bedruckte Baumwollstoffe aus den europäischen Textilzentren in England, Flandern, Sachsen, der Schweiz und auch aus Heidenheim eroberten als billige Massenware den Weltmarkt.

Die Billig-T-Shirts, gekauft 2017 in einem Heidenheimer Textil-Discounter, erzählen folgende Geschichte:
Die Billig-T-Shirts.

In den Jahren nach den verheerenden Weltriegen wuchs der Welthandel wieder, so wie schon in der Zeit vom 16. Jahrhundert bis 1914. Viele Länder öffneten ihre Märkte. So lohnte es sich für immer mehr Unternehmen, ihre Maschinen aus den europäischen Fabriken abzuziehen und in Asien wieder aufzustellen – wo die Arbeiterinnen vielleicht nicht für das sprichwörtliche Schälchen Reis arbeiteten, aber doch für einen Bruchteil der Löhne in den Industriestaaten.

Die Bedeutung der Textilindustrie in und für Heidenheim

Die Manchester-Hose erzählt folgende Geschichte:
Die Manchester-Hose.

Die Stadt Manchester im Nordwesten Englands galt im 19. Jahrhundert als das sprichwörtliche Zentrum der Textilindustrie. Sie gab auch einem auf bestimmte Art gewobenen, robusten Stoff ihren Namen, und die Arbeitshosen aus diesem Stoff nannte man „Manchester-Hosen“. Sie waren lange Jahrzehnte das, was heute die Jeans sind: Fast unverwüstliche Kleidungsstücke.

Noch heute ist es üblich, ähnliche Erscheinungsformen auf ein herausragendes Vorbild zu beziehen – zum Beispiel die „Sächsische Schweiz“ oder das „Venedig des Nordens“.

Der württembergische liberale Landtagsabgeordnete Moritz von Mohl charakterisierte Heidenheim als das „Schwäbische Manchester“. Er stellte es damit in eine Reihe mit den hier aufgelisteten weiteren 26 Zentren der Textilindustrie auf dem gesamten Globus: von Apolda, dem „Manchester Thüringens“ bis zu Osaka, dem „Manchester Japans“ oder „des fernen Ostens“.

Oberdorfer – vom Baumwollfaden zum Metallsieb
Oberdorfer – vom Baumwollfaden zum Metallsieb.

Die Firma „F. Oberdorfer, Baumwoll- und Leinenweberei“ wurde im Jahr 1878 in Heidenheim gegründet. Das Unternehmen spezialisierte sich auf baumwollene und leinene Frottierartikel für Badezwecke. Ihr Haupt-Absatzgebiet lag in Norddeutschland. Damals begann die ganz neue Bewegung des modernen Tourismus. So bediente Oberdorfer vor allem den Bedarf der ersten Touristen in den aufstrebenden Badeorten an der Nord- und Ostsee.


Im Jahr 1897 gliederte Oberdorfer einen zukunftweisenden Produktionsbereich aus: die Metalltuchfabrik. Dort fertigte das Unternehmen auf modernsten, elektrisch angetriebenen Drahtwebstühlen Metalldrahtgewebe aller Art aus Messing, Kupfer und Bronze. Die dienten vor allem für den Einsatz in Papiermaschinen und Papierfabriken. Kunden aus Deutschland, Frankreich, England, Norwegen, Russland, Italien, der Schweiz und Nordamerika kauften die Metalldrahtgewebe made in Heidenheim.


Für den Produktionsprozess macht es keinen fundamentalen Unterschied, ob die Gewebe aus dem Rohstoff Leinen, Wolle, Baumwolle, oder ob sie aus Messing, Kupfer, Bronze bestehen.


Die Firma F. Oberdorfer steht in dieser Ausstellung als Sinnbild dafür, wie die Metallindustrie in Heidenheim aus der Textilindustrie hervorging: Im konkreten Fall im buchstäblichen Sinne, für die Heidenheimer Industriegeschichte im übertragenen Sinn, denn auch die Firma Voith verdankt ihren Aufstieg der ansässigen Textilindustrie. Um in der passenden Bildsprache zu bleiben: Oberdorfer ist der Prototyp für die enge Verflechtung von Textil- und Metallindustrie in Heidenheim.